Ich war auch ganz froh, als ich die Stroke Unit verlassen konnte, denn am Morgen wurde ein älterer, alkoholkranker Herr eingeliefert, der offenbar einen Schlaganfall hatte und sich auch ohne beide Umstände ziemlich daneben benahm und das Pflegepersonal regelrecht zernervte. Einmal hat er sogar mit seinem Pipimann vor mir rumgeprahlt, sodass Stefan die Luft wegblieb, aber der Kerl konnte mich damit nicht beeindrucken :o) - zu seiner großen Enttäuschung.
Als um 12 Uhr mittags gerade das Essen serviert worden war, wurde ich nach unten beordert wegen einer Untersuchung, d. h. bei mir sollte ein EEG gemacht werden. Ich habe dann die Glocke über dem Essen gelassen, damit es während meiner Abwesenheit nicht kalt wird und die Schwestern gebeten, mein Mittagessen stehen zu lassen, bis ich wieder da bin. Das haben sie auch tatsächlich getan.
Ich saß schließlich im Wartebereich vor dem EEG, weil noch eine Patientin vor mir dran war, und hatte einen Blick auf die alte, ausgewaschene Fassade des Backsteinbaus, sodass ich mich unweigerlich wieder an den Tod erinnert fühlte. Das geht mir komischerweise jedesmal so, wenn ich im Philipp bin - egal, ob als Besucherin oder Patientin, aber da haben mir schon viele andere zugestimmt, bei denen kein Angehöriger in diesem Krankenhaus verstorben ist. Mein Opa ist 1975 im Philippusstift an Krebs gestorben, aber ich war zu klein, um mich bewusst daran zu erinnern, denn als er starb, war ich gerade mal 15 Monate alt.
Nach dem EEG, das zum Glück ohne auffälligen Befund war, bin ich wieder hoch in mein Zimmer und habe erstmal gegessen. Der Fisch und die Kartoffeln waren zwar trotz der Glocke schon ziemlich kalt, aber das Essen war trotzdem noch genießbar - was im Philipp leider auch keine Selbstverständlichkeit ist. Ich erwarte ja kein Drei- oder Vier-Sterne-Menü im Krankenhaus, aber im Vergleich zu anderen Krankenhäusern, in denen ich schon stationär war (Elisabeth-Krankenhaus in Huttrop, katholisches Krankenhaus in Werden) fällt das Essen vom Philipp deutlich ab.
Als ich mein Tablett gerade zehn Minuten weggestellt hatte in einen der Speisewagen auf dem Flur, bekam ich eine Zimmerpflanze - eine sympathische, fröhliche Dame von 65 Jahren aus Altenessen :o). Sie war zunächst mit ihrer Schwiegertochter im Marienhospital gewesen, das ja in Altenessen liegt, aber da es dort keine eigene neurologische Station gibt, hatte der Arzt in der dortigen Notaufnahme sie ans Philipp in Borbeck weiterverwiesen.
Meine Zimmerpflanze und ich haben uns sofort gut verstanden. Sie hatte allerdings keine Symptome eines Schlaganfalls, sondern war am Morgen, nachdem sie aus dem Bett aufgestanden war, ohne jeden erkennbaren Grund plötzlich bewusstlos geworden und hatte während der Ohnmachtsphase, die etwa zehn Minuten gedauert hatte, unter sich gelassen. Das wollte sie natürlich abklären lassen, zumal es wohl nicht das erste Mal war, dass ihr das passiert ist. Sie verglich es mit einem Vorhang, der plötzlich und ohne Vorwarnung fällt.
Allerdings haben die Schwestern meine Zimmerpflanze bis zum Abendessen hungern lassen, denn das Mittagessen war ja vorbei und es war auch leider nix übrig geblieben. Sie hatte an dem Tag doch noch gar nicht gefrühstückt, weil sie ja direkt nach ihrer Bewusstlosigkeit ihre Schwiegertochter angerufen hatte und mit ihr von Krankenhaus zu Krankenhaus gefahren ist. Momentan waren auch nicht die Pflegekräfte auf der Station, mit denen ich sonst zu tun hatte, sondern ein mir unbekanntes Team - und manche Schwestern im Philipp leiden leider an mangelndem Einfühlingsvermögen. Mein Opa hatte 1975 Strahlenkrebs, d. h. man konnte minütlich zugucken, wie der Krebs in einer anderen Stelle im Körper ausbrach. Leider hatte er auch Hirnmetastasen, sodass er zeitweise nicht mehr sprechen konnte und auch gelähmt war - trotzdem war eine Schwester damals wohl so "freundlich" und hat einem querschnittsgelähmten Mann einen Gehstock ans Bett gestellt, haha.
Als ich später mit meiner Mama in der Cafeteria war, habe ich meiner Zimmerpflanze zumindest eine Kleinigkeit mitgebracht, damit sie die Zeit bis zum Abendessen überbrücken konnte. Die Schwestern waren ohnehin witzig - meine Zimmerpflanze vertrug kein Mineralwasser mit Kohlensäure, doch als sie sich Flaschen mit stillem Wasser bringen lassen wollte, wurde ihr gesagt, dass das magenkranken Patienten vorbehalten sei *boing*. Wie reizend...ich war da schmerzfrei und habe ihr einfach, ohne dass mich da eine Schwester schräg angeredet hatte, zwei Flaschen stilles Wasser vom Flur aus den Getränkewagen geholt. Das kann es jawohl echt nicht sein - es gibt auch Menschen, die kein Magenleiden haben, aber trotzdem keine Kohlensäure vertragen.
Am Freitag hatte mein Stationsarzt keinen Dienst, denn am Freitagabend nahm mir ein junger, türkischer Assistenzarzt Blut ab, um meine INR zu bestimmen. Meine Zimmerpflanze mochte ihn überhaupt nicht, denn er war ihr behandelnder Arzt in der Notaufnahme gewesen und nahm sie wohl nicht ganz für voll (warum auch? Wat der Bauer nicht kennt, frisst er nicht...). Außerdem hatte sie drei verschiedenen Ärzten dreimal erzählen müssen, was sie eigentlich für Beschwerden hat, sodass ich ihr schon scherzhaft geraten hatte, doch eine CD zu besprechen und die jedesmal abzuspielen, wenn mal wieder jemand nicht im Bilde war :o) - ist auf jeden Fall zielführender und weniger anstrengend als die ewige Wiederholung, weil die Leute nicht richtig zuhören oder weil man von A nach B verwiesen wird und wieder keiner was weiß *stöhn*.
Am Samstag bekam ich nachmittags Besuch von Renate und meiner Mama, die auch kleine freundliche Krankengeschenke für mich dabei hatten. Meine Zimmerpflanze hatte zwischenzeitlich Besuch von ihren Kindern und Enkeln, traute sich aber nicht, die Station zu verlassen aus Angst, dass sie plötzlich wieder ohne jeden ersichtlichen Grund bewusstlos wird. Deshalb hat sie sich mit ihren Angehörigen in die Coffee Corner auf der Station gesetzt - mit nettem Blick auf den Friedhof St. Dionysius :o).
Friedhof St. Dionysius vom Philipp aus aufgenommen - (c) Alexandra Döll, Essen
Am Abend haben meine Zimmerpflanze und ich "Ein starkes Team" im ZDF geguckt. Mittlerweile war es dämmerig geworden, als es um 21.25 Uhr an der Tür klopfte. Am schüchternen Klopfen habe ich schon gehört, dass es mein Stationsarzt war - die anderen Ärzte und Schwestern haben viel energischer geklopft :o). Ich habe freundlich "Herein" gerufen und er trat ein in das halbdunkle Zimmer, dabei sagte er "N' Abend", was von uns freundlich erwidert wurde.
Ich hatte das Bett am Fenster und er kam langsam auf mein Bett zu, dann stellte er seine Utensilien für die Blutabnahme auf mein Nachtschränkchen. Da es ja schon dämmerig draußen war, hat er nach dem Licht für mein Bett gesucht und mich ganz nett gefragt, ob er das Licht anknipsen dürfe (hm, ohne Licht keine Sicht, sagte schon meine Physiklehrerin in der achten Klasse *schmunzel*). Ich antwortete scherzhaft: "Solange Sie es mir nicht ausknipsen...!" Er hat das dann richtigerweise als Erlaubnis gewertet, das Licht über meinem Bett einschalten zu dürfen und wollte mir Blut abnehmen. Dabei war er linkisch, schüchtern und richtig hektisch, was ich gar nicht von ihm kannte, zumal er sehr gut Blut abnehmen konnte. Ich konnte mir zunächst keinen Reim darauf machen und mit meiner Zimmerpflanze hatte ich an jenem Abend nicht mehr über dieses nette kleine Intermezzo an meinem Bett gesprochen.
Nach der Blutabnahme machte er das Licht wieder aus, wünschte uns eine gute Nacht und ging dann wieder aus dem Zimmer. Wenig später war auch der Krimi zuende und ich bin mir noch eine rauchen gegangen zusammen mit anderen Damen von verschiedenen Stationen, bevor meine Zimmerpflanze und ich uns zur Nachtruhe begeben haben.
Als meine Zimmerpflanze und ich bereits in tiefem Schlafe lagen, flog plötzlich die Zimmertür auf. Im Licht des Ganges sahen wir die Nachtschwester, die wir ziemlich fragend bis schlaftrunken ansahen. Sie sagte nur hektisch: "Ist nix, ist nix, ich wollte nur was gucken!", dann ging sie wieder und machte die Tür zu. Was das nun war, fragen wir uns wohl bis heute :o)).
Da mein Stationsarzt mir ja erst recht spät Blut abgenommen hatte, erschien mir meine Marcumar-Tablette natürlich erst mitten in der Nacht um 1.30 Uhr, was ich dann am nächsten Morgen auch ganz nett bei Pfleger Bastian moniert habe. Folglich habe ich darum gebeten, mir doch bitte demnächst eher Blut abzunehmen, weil das natürlich nicht so lustig ist, wenn man mitten in der Nacht geweckt wird, um eine Tablette einzunehmen. Er lächelte und behauptete, ich sei ja angeblich den ganzen Samstag nicht im Zimmer gewesen, doch da hat er direkt einen von mir und meiner Zimmerpflanze einen drüber gekriegt - meine Zimmerpflanze war praktisch den ganzen Tag im Zimmer und auch ich war bis auf eine Stunde in der Cafeteria und bei kurzen Raucherpausen vor dem Krankenhaus stets im Zimmer gewesen, also war das eine glatte Lüge. Ich habe ihm dann auch im netten Ton gesagt: "Bastian, Sie sind ein netter junger Mann, aber das geht jetzt ein wenig zu weit!" - Er errötete und versprach mir, sich darum zu kümmern. Aha, geht doch...! :o)
Zwischenzeitlich hatten meine Zimmerpflanze, Pfleger Bastian und ich über Fledermäuse rumgealbert, die in der Dunkelheit vor dem Fenster unseres Zimmers gekreist waren und die ich sogar mit einer toten Mücke von der Lichtleiste über meinem Bett gefüttert habe *grins*, denn offenbar war dort zum letzten Mal irgendwann in den 90ern Staub gewischt worden, haha. Wir haben auch zusammen mit den Meisen gesungen, die in dem Baum vor unserem Fenster saßen und waren überhaupt total fröhlich, zumal wir überlegt haben, wo das Krankenhausgespenst des Philipp wohl wohnt - genug Möglichkeiten gibt es ja in dem großen, alten Kasten :o))). Ansonsten diskutierten meine Zimmerpflanze und ich scherzhaft darüber, ob sich das Kreuz auf der Kirchturmspitze von St. Dionysius dreht oder nicht - sie meinte, ja, ich wiederum nein :o)).
St. Dionysius von unserem Zimmer aus aufgenommen - (c) Alexandra Döll, Essen
Nach dem Frühstück war ich erst eine rauchen und bin dann duschen gegangen. Ich hatte meine Zimmerpflanze gebeten, dem Arzt Bescheid zu sagen, falls er mich wegen Blutabnahme suchen sollte, denn ich hätte mich dann ggf. bei ihm im Arztzimmer gemeldet. Das war aber überflüssig, denn während meiner Abwesenheit kam niemand.
Nach dem Duschen saß ich mit nassen Haaren und meinem Bett und da sprachen wir auch über das Verhalten meines Stationsarztes am Vorabend. Ich bin wieder nicht drauf gekommen, warum er so hektisch und linkisch war, aber meine Zimmerpflanze hat mich mit der Nase drauf gestoßen. "Merken Sie eigentlich nix?!", sagte sie amüsiert, "der Arzt sieht in Ihnen nicht die Patientin, er sieht in Ihnen die Frau!" Oops...so hatte ich das noch gar nicht gesehen. Normalerweise habe ich ja eine schnelle Auffassungsgabe, aber wenn ein Mann sich für mich interessiert, bekomme ich das gar nicht mit, weil ich mich einfach nicht so wichtig nehme - bei mir müssen die Kerle dann schon deutlich werden bzw. in Laufschrift auf der Stirn stehen haben, dass sie mich gut finden :o)).
Wir sprachen gerade noch darüber, als es wieder leise und schüchtern an der Tür klopfte - das konnte nur einer sein :o). Ich rief fröhlich "Herein!". Die Tür öffnete sich und er trat wieder schüchtern ein - einen Moment lang konnte er mir in die Augen schauen, als er ins Zimmer trat, aber dann errötete er und schlug den Blick nieder. Ehrlich gesagt fand ich das ziemlich niedlich.
Er trat an mein Bett heran, sagte keinen Ton, stellte sein Zeug für die Blutabnahme auf meiner Bettdecke ab und wusste offensichtlich nicht, was er sagen sollte, denn er starrte hinunter auf die Bettdecke und sagte immer noch keinen Ton - ein "Guten Morgen" hatte er immerhin an der Zimmertür noch hinbekommen :o).
Ich halte es in solchen Fällen mit einem Spruch meines Vaters, nämlich mit dem Satz "Ein kleiner Scherz zur rechten Zeit entkrampft." - deshalb wollte ich ihm die Schüchternheit nehmen und habe aus dem Grunde einen kleinen Scherz gemacht, der ihm eigentlich sagen sollte, dass er mir willkommen ist und es keinen Grund gibt, schüchtern zu sein. Leider ging mir zu spät auf, was ich da sagte, denn ich sprach fröhlich:
"Na, kommen Sie wieder, um mich zu stechen?"
Mein Arzt lief dunkelrot an - hm, ich hatte das Verb "stechen" eigentlich auf den Pieks bei der Blutabnahme bezogen, aber bei ihm ist es wohl anders angekommen bzw. er hat an das andere "Stechen" gedacht :o)). Das sagt mir allerdings auch, dass seine Gedanken in dem Moment wohl nicht so blütenweiß waren wie sein Arztkittel *grinsbreit*. Er nickte errötend und riss sich bei der Blutabnahme unheimlich zusammen, um nicht wieder so eine Show wie am Vorabend zu machen. Als ich meiner früheren Kollegin Petra wenige Tage später am Telefon davon erzählte, lachte sie sich krank und meinte kichernd: "Alex, du weißt doch, was gilt: Erst stechen - dann kommen, nicht umgekehrt!" :o))
Nach der Blutabnahme habe ich noch kurz mit ihm über meine Marcumar-Dosierung gesprochen und danach ging er schüchtern aus dem Zimmer. Das war leider das letzte Mal, dass ich ihn gesehen und gesprochen habe :o((. Am nächsten Tag, als ich recht überraschend und hastig am Nachmittag entlassen wurde, hatte er leider keinen Dienst und überhaupt war mir die ganze Mannschaft auf der Station an dem Tag unbekannt. Schade, dass ich ihn nicht mehr gesehen habe, denn ich hätte mich gerne bei ihm für all das bedankt, was er während meines Krankenhausaufenthaltes für mich getan hat.
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